Wir schreiben das Jahr 1994. Seit vielen Jahrhunderten wird das besondere Brauchtum des Türmerwesens auf St. Lamberti gepflegt und diese Tradition auch aktiv gelebt.
Es begab sich aber zu jener Zeit, dass die Stadt Münster eine Stellenanzeige in der Münsterschen Zeitung veröffentlichte, und es stand geschrieben:
Münster, 14. Mai 1994.
Unser Türmer geht nach 33jähriger Tätigkeit als dienstältester europäischer Vertreter dieser besonderen Zunft in den Ruhestand.
Deshalb suchen wir zum 1.7.94 eine/n
Türmer/in.
Die Aufgabe ist kaum zu beschreiben. Wenig Worte/Wörter sagen oft mehr. Am besten sehen/hören Sie sich den Arbeitsplatz 298 Stufen über dem Prinzipalmarkt im Lambertikirchturm einmal an. […]
Wenn Sie dann – vom Idealismus beseelt und dieser Tradition verpflichtet – keinen anderen Wunsch mehr haben, diese besondere Aufgabe zu übernehmen und in der Lage sind, die Westfalenmetropole öffentlichkeitswirksam zu vertreten, sollten Sie Ihre aussagefähige Bewerbung innerhalb von zwei Wochen nach Erscheinen dieser Anzeige richten an:
Der Oberbürgermeister | Personalamt | 48127 MS
Es meldeten sich tatsächlich viele „vom Idealismus beseelte“ Menschen, die sich gut vorstellen konnten, als Türmer/in allabendlich auf dem schönsten Kirchturm der Stadt Münster Dienst zu tuten.
Ein 21jähriger Student z.B. schrieb:
Neulich schlenderte ich an einem schönen Frühlingsabend die Straßen von Münster entlang, dieser Stadt mit Tradition und einigen schönen Geheimnissen, die längst nicht jedem Bürger bekannt sind. Geheimnisse müssen nichts Negatives sein, sie sind immer anregend. Reizvoll ist es fast immer, sie in Worte zu fassen oder noch besser die Bilder, die das Geheimnis zum Reiz werden lassen auf Papier zu verewigen. Der Türmer von Münster blies in sein Horn und richtete seinen dumpfen Ton in alle Himmelsrichtungen. Auf den Stufen des Rathauses sitzend begann sich die Feder auf dem Papier zu bewegen und der Wind der Stadthistorie wehte sie durch Jahrhunderte. Die steinernen Figuren eines Goethe und Schillers, die am Portal der Lambertikirche angebracht waren, begannen zu leben und die Käfige schaukelten in windiger Höhe…
Das Personalamt las sich durch alle beseelten Anschreiben und Bewerbungen, und wählte schließlich 6 ganz besonders beseelte Menschen aus, am erweiterten Auswahlverfahren teilzuhaben.
An einem Juniabend 1994 waren diese 6 Interessent/innen ins Stadtweinhaus eingeladen, um eine „schriftliche Befragung mit Getränkeausschank“ und im Anschluss eine Türmerstubenbesichtigung zu erleben.
Ein Auszug aus der schriftlichen Befragung:
Ich bin für diese Aufgabe hoch motiviert, weil …
Die Stadt Münster erwartet von mir, dass ich …
Ich bin für diese Position besonders geeignet, weil …
In der Zeit, in der ich nicht ins Horn blase …
Wolfram Schulze, ein Mann mit vielen Talenten und vielerlei Berufs- und Lebenserfahrung (Buchbinder, Putzmann, Vater eines Sohnes, Antiquar, Philosoph mit eigener Praxis und noch vieles mehr) muss in diesem gesamten Bewerbungsverfahren sehr stark überzeugt haben – als Türmer/in muss man definitiv eine spezielle „Type“ sein – denn am 22. Juni 1994 erschien folgende Pressemeldung:
Türmer-Tradition in Münster hat Zukunft
Mehring-Nachfolger steht fest: Oberbürgermeister Dr. Jörg Twenhöven reichte Horn an Wolfram Schulze weiter.
Wolfram Schulze ist der neue Türmer von St. Lamberti. Er führt zum 1. Juli die jahrhundertealte Tradition hoch über den Dächern der Westfalenmetropole fort. Der Münsteraner tritt die Nachfolge von Roland Mehring an, der nach 33 Jahren als dienstältester europäischer Vertreter dieser Zunft in den Ruhestand geht.
[…] Wolfram Schulze, 1943 in Kremmin (Pommern) geboren, wuchs in Vreden und Bremen auf, studierte an der Uni Münster Philosophie, evangelische Theologie, Volkskunde und Geschichte und legte 1981 dort sein Magisterexamen ab. Der Familienvater – ein Kind – war der bisherige Stellvertreter von Roland Mehring.
Es ist ein einsamer Beruf in der Turmstube, 298 Stufen vom hektischen Alltag entfernt. Seine einzige „meßbare“ Aufgabe: Den Münsteranern mitzuteilen, was die Stunde geschlagen hat. Oder in Arbeitszeit ausgedrückt: Sechs Nächte halbstündlich zwischen 21 Uhr und Mitternacht ins Horn zu tuten.
Schon die Stellenausschreibung hatte bundesweit Medieninteresse erregt […]. 34 Bewerbungen gingen insgesamt bei der Stadt Münster ein, sechs von ihnen – darunter eine Frau – kamen in die engere Wahl.
„Ein Posten als Abteilungsleiter ist fast leichter zu besetzen“, schmunzelt Josef Möllers vom Personalamt über das Anforderungsprofil mit Widersprüchen. Auf der einen Seite muß der Türmer auch in schnelllebigen Zeiten die Stille aushalten, die Einsamkeit ausfüllen. Andererseits wird von ihm verlangt, diese Position, die zur Stadtwerbung und Touristik gehört, medienwirksam zu vertreten. Kondition ist ebenso vonnöten wie Kontinuität, Zuverlässigkeit, gefragt sind ein Hang zur Originalität, zur Philosophie und eben die Öffnung nach außen. […]